Eine Bild- und Sprachnachricht aus dem Home-Office
Im Jahr der „Asiatischen Grippe“ Geborene, das war 1957, gelten als endemisch furchtlos, seit sie das Licht der Welt erblicken durften. Dankbar sind sie vor allem, dass die Erinnerung an die „Spanische Grippe“, die überzog in drei Wellen zwischen 1918 und 1919 alle Kontinente, längst außer Reichweite ist.
Und doch sehne ich mich, ein 57er Jahrgang, im Home-Office manchmal nach Bullerbü, wo es seit 1947, als die Schwedin Astrid Lindgren den ersten Band ihrer Bullerbü-Trilogie veröffentlichte, „immer lustig“ ist.
Noch nicht in der ersten Schulklasse angelangt, waren diese Geschichten von den Landkindern Britta, Inga, Lisa, Lasse, Bosse und Ole schon ein brennender Buchwunsch. Schön gebundene Ausgaben von diesen vielleicht zartesten aller Kindheitswelten lagen bereits ab 1955 vor und meine Oma hat mir im Dezember 1962, „a grad wei halt Weihnachten ies“, wie sie in ihrem weichen Niederbayerisch bemerkte, den ersten Band der Bullerbü-Geschichten geschenkt. „Weist as gonze Johr so schee brav worst“ - wie weit doch manchmal die Einschätzungen auseinanderliegen.
Alles lange vergessen, vergraben unter reichlich mit Geschichtchen angefüllten Lebensjahrzehnten. Dann aber, Mitte März 2020, mit einem Mal alles wieder da.
Covid-19-Pandemie und Home-Office sei`s gedankt und ist es geschuldet.
Und Psychologinnen und Psychologen landauf, landab halten es ja auch für resilienzstärkend, wenn wir alle uns in der Zeit des Shut-down und des Social Distancing auf das besinnen, was uns in unserer technologie-, informations- und wissensverliebten Welt manchmal ein wenig aus den Augen gerät. „Soziale Lebewesen“ seien wir, aufeinander verworfen und dauerhaft nur in Gesellschaft glücklich, genießbar oder erfolgreich.
Durs Grünbein hat am neunten April im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung das Gedicht „Ein Feind, unsichtbar“ veröffentlicht. Beim Lesen des Titels schoss es mir in den Kopf, ob nicht die Zeit der Erinnerung oder gar die Erinnerung selbst ein unsichtbarer Feind wäre. Die Gefahr, dass es einmal schöner war, besser und auch anders, die schwingt ja bei Erinnerungen immer mit. Und dann wird aus der Erinnerung schnell der Feind des alltäglich erforderlichen Pragmatismus. Den aber brauchen wir in Krisenzeiten eher als vieles andere. Umso tröstlicher, dass Grünbeins Poesie vom „unsichtbaren Feind“ mit tatsächlichen Selbstverständlichkeiten beginnt. „Die Ampeln schalten nachts weiter, auch ohne Verkehr. Es gibt keine Theater mehr, Kinos und Bars sind geschlossen in den Zeiten der Pandemie. So sicher war die Stadt nie“, hält Grünbein staubtrocken fest. Und während er dann weiter über die trauernden Waren schreibt, die sich in den mausoleumsstillen Konsumtempeln schier tödlich langweilen, fällt ihm der Tagebucheintrag eines kleinen Mädchens in die Hand. Vielleicht eine Inga oder Lisa aus Bullerbü?
Grünbein schließt jedenfalls mit den Gedanken des Mädchens und seiner stillen Sehnsucht, die sich womöglich in unserer realen Welt dann doch nicht erfüllen kann. „So schnell kann es gehen, schreibt ein kleines Mädchen ins Tagebuch, und etwas von einem bösen Traum, der den Frühling verschlingt, von Hausarrest, der bald enden soll.“
Der Dichter fügt noch hinzu: „Nicht alle werden sich wiedersehen“. Und man wünscht sich bei allem Sprach- und Regelungs-Pragmatismus, es wär` halt doch irgendwie alles Bullerbü, und man sieht sie ausnahmslos alle wieder.
RÜDIGER KLEIN
Bild: „Alle und alles so weit weg – sogar Bullerbü“ / Mischtechnik auf Karton und im Goldrahmen, 06.04.2020