In der Praxis anwenden, was für die Lebenspraxis gelernt wurde
Im Schuljahr 2018/2019 hatten die 11ten Sozialklassen erstmals Kunstunterricht nach dem neuen Lehrplan plus. Die Bildbetrachtung und -analyse gehört im Kunstunterricht neben der praktischen und klientenbezogenen Kunstproduktion mit zu den wesentlichen Unterrichtsinhalten.
Wer sollte sonst auch ein Bild in seiner Aussagekraft beurteilen können, wenn er nicht ein paar wenige Regeln der Bildsprache, der Bildgestaltung und der gestalterischen Entwicklung des Kindes kennen würde.
Seitenweg der Soziologie
Die Klasse FS12b hatte sich im vergangenen Schuljahr mit allen diesen Fragen rund um die Kunstpraxis und -produktion befasst und wollte im laufenden Schuljahr gerne im Fach Soziologie von diesen Erfahrungen aus der 11. Jahrgangsstufe profitieren.
Denn in einem kurzen Kapitel „Kunstsoziologie“ erarbeitete man sich die Anfänge dieses Seitenweges der Soziologie ab etwa 1930.
Abgeschlossen wurde der Ausflug in die Kunstsoziologie nun mit einer Exkursion nach Frankfurt ins Städelmuseum, wo von Herbst 2019 bis Mitte Februar 2020 die größte jemals gezeigte van Gogh-Ausstellung überhaupt lief.
Der Ausstellungstitel „Making van Gogh“ wollte bewusst darauf hinweisen, dass die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, Kräfte und Wissenschaften im Bunde waren, als es Anfang des 20. Jahrhunderts darum ging, aus dem Außenseiter Vincent van Gogh ein überzeitlich nachwirkendes Genie zu formen.
Schnell erkannten die Schülerinnen und Schüler, dass van Gogh, der von 1853 bis 1890 lebte, mit seiner künstlerischen Entwicklung und mit seiner tragischen Lebensgeschichte bereits zu Lebzeiten und posthum erst recht den Stoff für seine Glorifizierung, Mystifizierung und Dämonisierung lieferte.
Vincent van Gogh, sein Bruder Theo und dessen Frau Johanna van Gogh-Bonger erwiesen sich mit ihrem Geflecht von Lebenswegen als ein idealer Gegenstand für die frühe Kunstsoziologie.
An sich und an der Gesellschaft leiden
„Ohne den Mythos vom großen Leidenden hätte sich van Goghs Kunst nicht durchsetzen können“, behauptet Kia Vahland etwa in einer Ausstellungsbesprechung aus der Süddeutschen Zeitung vom 23. Oktober 2019. Vahland fasst damit zusammen, was die Ausstellung „Making van Gogh“ atemberaubend dicht und differenziert bis 16. Februar 2020 vor Augen führen konnte: Wer sich nicht mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu van Goghs Lebzeiten befassen mag und auch nicht mit den gesellschaftlichen Entwicklungen im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, der wird nicht verstehen können, wie und weshalb van Gogh zur Ikone der Moderne werden konnte.
Künstlerisch stehen vor allem seine späten Kunstschöpfungen außer Frage, aber dass der an der Zivilisation leidende Mensch, und der Künstler zumal, in den Focus soziologischen Interesses rücken konnte, dafür brauchte es mehr als nur schöne Pinselkunst.
Knapp 1000 Brief sind von Vincent van Gogh überliefert. Seine Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger hat sie nach Vincents und dem Tod ihres Mannes Theo ab 1891 ediert und damit den Insider-Geheimtipp Vincent van Gogh zur Marke werden lassen. Klar, dass die Medien und die Kunsthändler, also die sozialen Netzwerke des frühen 20. Jahrhunderts, das ihre dazu beitrugen, aus einem zeitweise mächtig dilettierenden Spätberufenen, der an sich und der Gesellschaft gelitten hat, ein Jahrhundert-Genie zu formen.
Umso erfreulicher, dass es der FS12b kurz vor dem Ende der Jahrhundert-Ausstellung im Städelmuseum ermöglicht wurde, die Schau der Superlative zu besuchen. Die nachfolgenden Bilder mögen die Begeisterung der Schülerinnen und Schüler unterstreichen.
Klasse FS12b und OStR Rüdiger Klein