Wenn Straßen ein „Pass“ im Namen haben, gehen bei einem Vater von drei Kindern alle Warnleuchten an. In diesem Fall ist der Reschenpass aus mehreren Gründen dennoch die erste Wahl: Im Vergleich zu der Brennerroute ist er annähernd hundert Kilometer kürzer und - die richtige Einstellung im Navigationsgerät vorausgesetzt - mautfrei befahrbar. Die Straße ist, ähnlich einer etwas kurvigen Bundesstraße, gut ausgebaut und damit unproblematisch zu passieren. Da der „Reschen“ alles, aber kein Geheimtipp ist, fährt man mit meditativen 50kmh Stoßstange an Stoßstange in Richtung Süden. Das Ende der Strecke entlohnt mit einer wundervollen Einfahrt in den Vinschgau, mit seinen schier endlosen Apfel-, Birnen- und Weinplantagen, die an 300 Sonnentagen beste Bedingungen für den Anbau finden.
In unseren Familienurlauben ist mir aufgefallen, dass nicht nur die Kultur, sondern offenbar auch das schulische System viele Parallelen zu uns in Deutschland aufweist. Ich hatte mich daher vor einigen Wochen an dem Realgymnasium mit technischer Fachoberschule in Meran gemeldet und einen Erasmus Aufenthalt mit dem Fokus auf den Bereich der Digitalisierung angefragt. Schon der erste Kontakt war derart sympathisch und unkompliziert, dass es nur diese kurze Zeit der Planung benötigt hat.
Empfangen wurde ich an meinem ersten Tag von dem Schulleiter Herrn Dr. Weis, der sich dankenswerterweise ganz viel Zeit für meine Einführung genommen hat. Dabei wurde es direkt wieder heimisch, denn eine Gruppe aus Lehrkräften und Schülern der Fachoberschule in Ansbach waren über Garmisch mit dem Rad angereist, hatten also deutlich mehr Höhenmeter in den Beinen als ich.
Große Teile meines Einführungsgesprächs haben wir auf die geschichtliche Entwicklung der Region verwendet, was bei einem pädagogischen Erasmusaufenthalt vielleicht ungewöhnlich erscheint. Ich jedoch habe es als unerlässlich empfunden, um zu verstehen, wie eine Region, in der sich die Kultureinflüsse aus Italien, Österreich und Deutschland vermischen, funktioniert. In Anbetracht der turbulenten und vielfach gewaltsamen Perioden der vergangenen hundert Jahre ist es unglaublich, zu welch einer idyllischen und prosperierenden Region Südtirol geworden ist. Maßgeblichen Einfluss hatte das im Jahr 1972 getroffene Autonomieabkommen mit seinen weitreichenden Selbstverwaltungskompetenzen. Für mich war das die vielleicht erste Erkenntnis für meinen Unterricht: Eigenverantwortung und gewährte Freiheiten resultieren am Ende in Selbstzufriedenheit.
Die Ansätze und Abläufe der Schule mit ihren 650 Schülerinnen und Schülern sowie circa 100 Lehrkräften sind ganz ähnlich, wie auch bei uns. Auffällig ist das Mengenverhältnis von Lehrkräften und Schülern. Einerseits begründet durch eine hohe Zahl an Teilzeitkräften, aber auch aufgrund eines starken Anteils an Team-Teaching Einheiten. In sehr vielen Fächern steht einer akademischen Lehrkraft ein Praktiker zu Seite, der den Unterricht flankiert. Diese Kombination kann man sich für Deutschland nur wünschen.
Auch hier in Südtirol hat die Digitalisierung maßgeblich mit der Corona Pandemie begonnen. Diese Digitalisierungsoffensive wurde, angestoßen und koordiniert von Gianluigi De Gennaro (Rufname: Gigi), mit einem Nachhaltigkeitsansatz verknüpft. Da jede Klasse konsequent mit Laptop oder Tablet arbeitet, wurde es zum erklärten Ziel, die ressourcenintensiven Kopien zu reduzieren. Bis heute konnte ihre Zahl von einer halben Million auf 80.000 Stück gesenkt werden. Im Rahmen dieser Initiative wurden zudem alle Plastikverpackungen verbannt. Die Kaffeeautomaten werden folglich mit der eigenen Tasse verwendet, Getränke in Glasflaschen genutzt. Für Gigi, den ich als hochmotivierten und kreativen Kollegen kennengelernt habe, ist die Reise damit aber noch nicht zu Ende. Er steht in Kontakt mit den regionalen Milchproduzenten, um die Verpackungen zu optimieren und unnötige Plastikverschlüsse zu beseitigen.
Als ich meinen Beobachtungsschwerpunkt auf die Digitalisierung gelegt habe, konnte ich nicht ahnen, dass ich mich für die absolut richtige Schule entschieden hatte. Ein Schüler der Schule hat vor wenigen Jahren eine Software programmiert, die heute in annähernd allen Schulen Südtirols verwendet wird. Dieses Programm, das als „Digitales Register“ bezeichnet wird, ist mit unserem Digitalen Klassentagebuch vergleichbar, jedoch mit erweitertem Umfang. Neben der Dokumentation des Unterrichts und der Verwaltung der Schülerinnen und Schüler wird auch die Notenverwaltung abgewickelt. Die Erziehungsberechtigten erhalten einen Zugang und können sich jederzeit über den Leistungsstand und die Anwesenheit informieren. Das Programm fertigt zudem detaillierte Statistiken an, die es der Klassenkonferenz erleichtern, Entscheidungen über pädagogische Maßnahmen in der Klasse zu treffen. Es ist wenig verwunderlich, dass der größte Anbieter für derartige Lösungen in Europa, Untis aus Österreich, in das Projekt eingestiegen ist. Aus diesem Schulprojekt hat sich heute ein eigenes Unternehmen entwickelt, das erst kürzlich eine Million Euro in einer Crowd-Funding Aktion gesammelt hat. Als schulisches Bindeglied fungiert Alex Trojer, der sich dankenswerterweise viel Zeit genommen hat, um mich in die vielen innovativen Ideen einzuführen. Alex ist nicht nur technisch versiert, er denkt permanent darüber nach, wie der Alltag für uns Lehrkräfte und in der Folge für unsere Schüler digital optimiert werden kann. Das Programm Teachino ist eine für mich sinnlogische Weiterentwicklung des Digitalen Registers und mit diesem (und dem in Deutschland verbreiteten Pendant Untis) perfekt verknüpft. Ziel ist es, die Einträge in das Klassentagebuch zu archivieren, um sie in den Folgejahren erneut zu nutzen. Diesen Einträgen können Dokumente und pädagogische Werkzeuge zugefügt werden, um sie zukünftig ohne Suchaufwand zu nutzen. Mittels einer OpenAI Schnittstelle kann zu allen Themen eine Anfrage an die künstliche Intelligenz gestellt werden, um neue Unterrichtsideen zu erzeugen, Arbeitsblätter zu kürzen oder neue Sozialformen für den Unterricht zu finden. Ich freue mich sehr, diesbezüglich mit Alex in Kontakt zu bleiben. Sein Engagement und seine Kreativität sind inspirierend.
Bei der Anrede „Herr Professor“ dreht man sich als Deutscher verwundert um und fragt sich, wer gemeint sein könnte. An diesen neu gewonnen Titel könnte man sich schnell gewöhnen, es bleibt aber zu befürchten, dass die Universitäten in Deutschland ein Problem damit hätten. Schon am ersten Tag ist mir der höfliche und wertschätzende Umgang der gesamten Schulfamilie aufgefallen. Unterhält man sich mit Kollegen im Gang, wird direkt darauf geachtet, ob Türen zu Klassenräumen geöffnet sind, die dann vorsichtig geschlossen werden, um nicht zu stören. Dies zeigt sich auch im Unterricht, der hohe Freiheitsgrade und viele abgestufte Hilfen, also einen hohen Grad an Individualisierung, aufweist. Ich habe mich in diesem Umfeld sehr wohl gefühlt. Vielen Dank insbesondere an Herrn Hofer für die Möglichkeit der Hospitation – es war nicht nur ein toller Unterricht, sondern auch ein wunderbarer Austausch, weit über das rein Schulische hinaus.
Eine Woche erscheint auf dem Papier kurz, die gewonnen Eindrücke aber sind es nicht. Für mich ist aus einer Urlaubs- eine Bildungsregion geworden, die hoch innovativ arbeitet und offen für jeglichen Austausch ist. Mein Dank gilt dem Schulleiter, Herrn Dr. Weis, für die herzliche Aufnahme an seiner Schule. Ganz herzlichen Dank auch an Gianluigi Di Gennaro und Alex Trojer für die offenen Gespräche und ihre vielfältige Hilfe. Bedanken möchte ich mich zudem bei meinem Schulleiter Ralf Prosch, der sofort bereit war, mich bei diesem Vorhaben in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Vielen Dank auch an meine Kolleginnen und Kollegen, die mich sicherlich perfekt vertreten haben – insbesondere an Verena Hebig für Ihre Beratung im Vorfeld meiner Reise.
Mein Dank gilt dem Erasmus Förderprogramm, das diesen Austausch ermöglicht hat. Es ist eine wunderbare Erfahrung, die ich nur empfehlen kann.
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Sebastian Beck, Oberstudienrat